Aktuelles Lehrangebot

MA S. Formen audiovisueller Darstellungen: Querschnitte in Literatur und Film

Dozent:innen: Dr. Roman Mauer
Kurzname: S Formen audiovDarst
Kurs-Nr.: 05.054.555
Kurstyp: Seminar

Anwesenheitspflicht

Die Wände eines Gehäuses zu entfernen, wie es im Querschnitt geschieht, lässt Blickgrenzen durchlässig werden und entblößt das verborgene Innere. Der Gebäudeschnitt in der Architekturzeichnung korreliert dabei mit der Bedeutung von Transparenz, einem Primat der klassischen Moderne der 1920er Jahre, als die Architektur gläserne Gebäude erprobte. Transparenz kann für Modernität, Klarheit und Helligkeit, Naturnähe und Kontemplation sowie Demokratie und Rechtstaatlichkeit stehen, aber auch für den gläsernen Menschen, Überwachung und fehlende Privatsphäre, Warencharakter und Geheimnisverlust, Fetischismus und Voyeurismus.
Den Querschnitt als Denkfigur und poetische Methode, um das Gesellschaftliche einzufangen, hat auch die Literatur für sich entdeckt. Im Vorwort seines Monumentalromans „Die Ritter vom Geiste“ (1851) nennt Karl Gutzkow explizit den Querschnitt als Modell seiner literarischen Programmatik: „Den Roman des Nebeneinander wird man verstehen, wenn man z.B. in einem Bilderbuche sich die Durchschnittszeichnungen eines Bergwerks, eines Kriegsschiffes, einer Fabrik vergegenwärtigen will.“ Schon zuvor ließ Johann Nestroy seine Wiener Possen „Zu ebener Erde und erster Stock oder Die Launen des Glücks“ (1835) und „Das Haus der Temperamente“ (1837) in einem quer durchgeschnittenen Kulissenhaus auf der Theaterbühne spielen, um die kontrastiv getrennten Welten von Reich und Arm bzw. der vier traditionellen Gemütsarten (Phlegmatiker, Choleriker, Sanguiniker und Melancholiker) parallel vorzuführen. Analoges tut Alfred Döblin dann im Roman auch nicht mehr nur (wie Gutzkow) programmatisch, sondern unmittelbar erzählerisch, wenn er in „Berlin Alexanderplatz“ (1929 ) das Haus in der Liniengasse Etage für Etage durchgeht und so eine architektonische Narration skizziert: vom Erdgeschoss („ein schönes Schuhgeschäft, hat vier glänzende Schaufenster, und sechs Mädchen bedienen“) bis zur Dachstube („Ganz oben ein Darmhändler, was natürlich schlecht riecht und wo es viel Kindergeschrei und Alkohol gibt.“). Diese Passage steht emblematisch für die ästhetischen Diskurse der 1920er Jahre, denn die Weimarer Republik ist eine Blütezeit des Schnittdiskurses: Neben der Kulturzeitschrift „Der Querschnitt“ (1921-1936) und Fritz Kahns Querschnittgrafiken wie „Der Mensch als Industriepalast“ (1926) gibt es den ›Querschnittsfilm‹ in „Die Abenteuer eines Zehnmarkscheines“ (D 1926): „Der Weg der Banknote ergibt die einzige Linie der Ereignisse, die einander ins Rollen bringen, ohne innere Beziehung zueinander zu haben. Die Menschen gehen wohl immer wieder aneinander vorbei wie im Nebel und ahnen nicht, dass sie einander Ursache und Schicksal werden.“ (Béla Balázs) Und wie soll man eine ganze Stadt filmisch erzählen? Wie, wenn nicht im Querschnitt des City-Symphony-Genres (u.a. „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“, D 1927; „Menschen am Sonntag“, D 1930)? Zur gleichen Zeit hat der Gebäudeschnitt auch auf dem Theater wieder Konjunktur in Simultanbühnenkonzeptionen wie bei Heinz Hilpert („Die Verbrecher“, 1929; F. Bruckner) oder – gegenüber Nestroy medientechnisch stark modernisiert – Erwin Piscator („Hoppla, wir leben“, 1927; in E. Toller). Die Querschnittdarstellung bietet eine selektive Rahmenstruktur, um die amorphe Geschehnis- und Erlebnisfülle der modernen Großstadt – als dem zeitgenössischen Paradigma der modernen Welt – in eine Form zu zwingen: die Einheit des Widersprüchlichen und Unüberschaubaren, die Isolation im Kollektiv, die Topografie der Parallelgeschehnisse, die kausale Unverbundenheit der Ereignisse. Die Krise des Verlusts an traditionell überschaubaren und kontinuierlichen Verläufen als Kern der Modernitätserfahrung sucht nach ihrer künstlerischen Bewältigung und findet in der Querschnitt-Ansicht eine Chance, das Über- und Nebeneinander des Diversen zu zeigen.
Als Kooperationsveranstaltung im Masterstudiengang untersucht das Seminar, in dem Roman Mauer (Filmwissenschaft / Mediendramaturgie) und Johannes Ullmaier (Deutsches Institut) ihr gemeinsames erzähltheoretisches und intermediales Interesse verbinden und vom jeweils anderen Medium möglichst viel lernen wollen, den Querschnitt an der Schnittstelle von Literatur und Film, Text und Bild, Gesamtschau und Detail – mit thematischem Schwerpunkt im deutschsprachigen Raum zu Zeiten der Weimarer Republik. Wer teilnimmt, sollte für interdisziplinäre Perspektiverweiterungen und koordinierte Projektarbeit in Expertisengruppen offen sein.

Empfohlene Literatur

Balázs, Béla: Der Geist des Films (1926). Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001.

Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes (1957). Frankfurt am Main: Fischer 2020.

Buchert, Margitta: Transparenz. Potenziale und Wertsetzungen in der Architektur. In: Jahrbuch der Fakultät für Architektur und Landschaft/Leibniz Universität Hannover. Berlin: Jovis 2017, S. 8-13.

Debschitz, Uta von / Debschitz, Thilo von: Fritz Kahn. Man Machine / Maschine Mensch. Wien: Springer 2009.

Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte von Franz Biberkopf. München: dtv 1998.

Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977.

Guillerme, Jacques / Vérin, Hélène / Sartarelli, Stephen (1989): The Archaeology of Section. In: Perspecta, Nr. 25, S. 226-257.https://doi.org/10.1515/9783110943788.347

Gutzkow, Karl: Die Ritter vom Geiste. Roman in neun Büchern. Dritte Auflage. Leipzig 1854.

Hubmann, Philipp / Till Julian Huss: Einleitung: Das Gleichzeitige als Paradigma der Moderne. In: Dies. (Hrsg.): Simultaneität. Modelle der Gleichzeitigkeit in den Wissenschaften und Künsten. Bielefeld: transcript 2013, S. 9-36.

Klotz, Volker: Die erzählte Stadt: ein Sujet als Herausforderung des Romans von Lesage bis Döblin. München: Hanser 1969.

Lämmert, Eberhard: Bauformen des Erzählens. Stuttgart: Metzler 1955.

Lewis, Paul / Tsurumaki, Marc / Lewis, J. David: Schnitte. Konstruktion und Raum. Basel/Berlin/Boston: Birkhäuser 2018.

Lotz, Wolfgang: Das Raumbild in der italienischen Architekturzeichnung der Renaissance. In: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz, 7. Bd., H. 3/4, Juli 1956, S. 193-226.

Mauer, Roman. „Das nebeneinander existierende Leben von hundert Kammern“. Zur Narrativisierung des Gebäudeschnitts im Comic. In: Icon Düsseldorf (Hrsg.): SeitenArchitekturen. Architektur und Raum im Comic (Comicstudien Band 4). De Gruyter (im Druck, erscheint Dezember 2024).

Möbius, Hanno: Montage und Collage: Literatur, bildende Künste, Film, Fotografie, Musik, Theater bis 1933. München: Fink 2000.

Naujokat, Anke: Schichtung, Überblendung, Collage. Formen und Bedeutungen architektonischer Simultaneität. In: Hubmann, Philipp / Till Julian Huss (Hrsg.): Simultaneität. Modelle der Gleichzeitigkeit in den Wissenschaften und Künsten. Bielefeld: transcript 2013, S. 171-190.

Nünning, Ansgar / Nünning, Vera. Hrsg. 2000. Multiperspektivisches Erzählen : zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts. Trier: WVT.

Potsch, Sandra: Fragmentierte Welten und verknüpfte Schicksale. Formen episodischen und mehrsträngigen Erzählens in Literatur und Film. Bamberg: University of Bamberg Press 2014.

Rech-Pietschke, Katja: Die Semiologie des transparenten Gebäudes: Raum - Zeit - Tod bei Lesage, Zola, Butor und Perec. Frankfurt am Main [u.a.]: Lang 1995.

Schmidt, Sebastian: Schichtentheorien in Psychiatrie und Psychologie. Berlin: VWB – Verlag für Wissenschaft und Bildung 2018.

Schneider, Manfred: Transparenztraum. Literatur, Politik, Medien und das Unmögliche. Berlin: Matthes & Seitz 2013.

Trödler, Margrit: Offene Welten ohne Helden. Plurale Figurenkonstellationen im Film. Marburg: Schüren, 2007.

Termine

Datum (Wochentag) Zeit Ort
23.10.2024 (Mittwoch) 14:15 - 15:45 00 211 Hörsaal
9181 - Medienhaus
30.10.2024 (Mittwoch) 14:15 - 15:45 00 211 Hörsaal
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06.11.2024 (Mittwoch) 14:15 - 15:45 00 211 Hörsaal
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13.11.2024 (Mittwoch) 14:15 - 15:45 00 211 Hörsaal
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20.11.2024 (Mittwoch) 14:15 - 15:45 00 211 Hörsaal
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27.11.2024 (Mittwoch) 14:15 - 15:45 00 211 Hörsaal
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04.12.2024 (Mittwoch) 14:15 - 15:45 00 211 Hörsaal
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11.12.2024 (Mittwoch) 14:15 - 15:45 00 211 Hörsaal
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18.12.2024 (Mittwoch) 14:15 - 15:45 00 211 Hörsaal
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08.01.2025 (Mittwoch) 14:15 - 15:45 00 211 Hörsaal
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15.01.2025 (Mittwoch) 14:15 - 15:45 00 211 Hörsaal
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22.01.2025 (Mittwoch) 14:15 - 15:45 00 211 Hörsaal
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29.01.2025 (Mittwoch) 14:15 - 15:45 00 211 Hörsaal
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05.02.2025 (Mittwoch) 14:15 - 15:45 00 211 Hörsaal
9181 - Medienhaus