Bilderbeschwörungen. Lotte H. Eisner im Spiegel der klassischen Cinéphilie zwischen Frankreich und Deutschland
Als künftige Chefkuratorin der von Henri Langlois und Georges Franju in Paris aufgebauten Cinémathèque Française kam Lotte H. Eisner 1944 an einen Ort, der nur wenige Jahre später zum Mekka der klassischen – das heißt männlich dominierten – Cinéphilie in Frankreich werden sollte. Durch das exzessive Sichten, Sammeln und Sichern von Filmen und filmbezogenen Materialien gelang es Eisner vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zu ihrem Tod 1983, sowohl in der schriftlichen Auseinandersetzung als auch in ihrer archivarischen und beratenden Praxis, eine ganz eigene Art der Bewahrung und Vermittlung von Filmgeschichte zu betreiben: mittels einer auf Anschaulichkeit basierenden Beschreibungskunst als Kritikerin und Historikerin, in Form eines auf die Nähe zur Filmpraxis bauenden Sammelns und Ausstellens als Archivarin und Kuratorin sowie anhand einer die zukünftige Generation von Filmschaffenden ideel fördernde Tätigkeit als Netzwerkerin und geistige Mäzenin.
Zugleich vollzieht sich die Geschichte der Cinéphile in Frankreich und Deutschland nicht nur nahezu parallel mit derjenigen der Musealisierung, Institutionalisierung und Akademisierung von Filmkunst und Filmwissen – sie lässt sich ebenso entlang der verschiedensten Wirkungsbereiche Eisners erzählen: beginnend in den 1920er Jahren als Kritikerin beim Berliner Film-Kurier und regelmäßige Besucherin der Drehorte etwa von Fritz Lang und Georg Wilhelm Pabst, um sich das Handwerk der Filmschaffenden erklären zu lassen; nach Kriegsende als Sammlerin, die durch ihre früheren Kontakte ein ganzes Netzwerk von (vornehmlich exilierten) Filmkünstlern zu rehabilitieren wusste, um Langlois’ ‚Haus für den Film‘ zu befüllen; und schließlich als Zeitzeugin und Connaîsseurin, um den selbsternannten Waisen des Neuen deutschen Films durch ihre Erlebnisse und Bekanntschaften eine Brücke in die (filmhistorische) Vergangenheit zu schlagen und ihre Expertise bei Filmclubtreffen und Festivals in der ganzen Welt zu teilen.
Die Dissertation wird Lotte Eisners Errungen- und Hinterlassenschaften folglich erstmals in einem kulturhistorischen Kontext beleuchten. Es werden verschiedene Verfahren Eisners zur ‚Reanimierung’ und Rehabilitierung nicht nur des Weimarer Kinos im Kontext der Cinéphilie und Filmkultur im Frankreich und Deutschland der Nachkriegszeit aufgezeigt und in den Kontext einer Kulturgeschichte des Sehens eingebettet. Die Tätigkeiten des Sichtens und Sammelns, des Bewahrens und Ausstellens sowie des Vernetzens und Förderns von und für die Filmkunst als zentrale Aufgaben von Filmkultur sollen sodann als Basis der Annäherung an Lotte Eisners gesamtes Schaffen fungieren. In diesen Bereichen werden, so die These, unterschiedlichste Praktiken der Cinéphilie offenbar, an denen sich Eisner bereits in ihren Anfängen als Filmkritikerin in der Weimarer Republik auszuprobieren und als Filmhistorikerin und Archivarin der Cinémathèque schließlich zu beweisen suchte.
Durch eine interdisziplinäre Rahmung ihres Schaffens – im Sinne einer Befragung sowohl der hergebrachten Methoden der Kunstgeschichte und Archäologie als auch der Bereiche der Filmvermittlung und der sich ab den 1960er Jahren stetig institutionalisierenden Filmwissenschaft – wird besonders die kulturhistorische Prägung und Reichweite ihrer Überlieferungs- und Sicherungsstrategien, auch im Zuge eines (medien-)archäologischen Impulses der Cinéphilie, in den Vordergrund gerückt. Besonderes Augenmerk gelegt wird dabei etwa auf die Geschichte der Kunstkritik und der literarischen Bildbeschreibung, die Diskurse um Kenner- und Sammlerschaft sowie die Entwicklung der Filmkritik und Filmhistoriografie. Ebenso werden kunsthistorische Methoden und allgemeine Kulturtechniken wie das ekphrastische Schreiben, das vergleichende Sehen oder die Stilkunde auf ihre Relevanz für und ihren Einfluss auf cinéphile Praktiken befragt. So steht die Frage nach der Möglichkeit und dem Potenzial der (Wieder-)Sichtbarmachung von Filmgeschichte durch cinéphile Praktiken stets im Fokus der Überlegungen. Auf diese Weise soll auch die Grundlage für eine Neubewertung und -betrachtung sowohl der Person(a) Eisner geschaffen, als auch die Erforschung der Geschichte und Praxis der Cinéphilie in Bezug auf die Disziplinengeschichte der Film- und Medienwissenschaft fruchtbar gemacht werden. Nicht zuletzt wird dabei stets auch Eisners eigene Rolle als Frau in der Moderne, als Jüdin im Exil und als Mythos und ‚Mutter’ der Neuen Deutschen Filmer reflektiert.
Stand: August 2019
Erstgutachterin: Prof. em. Dr. Oksana Bulgakowa (Filmwissenschaft)